Table Stakes Europe – 2. Runde – Zwischenbericht
Von Doug Smith mit Einblicken von den Coaches
Es ist sehr inspirierend, mit Menschen und Nachrichtenunternehmen zusammenzuarbeiten, die sich der zentralen Herausforderung stellen und „bereit machen für die Welt der Nachrichten im 21. Jahrhundert“. Und genau das tun die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der orangefarbenen und der blauen Kohorte von Table Stakes Europe. Deshalb beginne ich diesen Zwischenbericht mit einem großen Dankeschön an sie alle.
Diese Runde hat das Programm nun zur Hälfte durchlaufen. Alle Teams haben klare und überzeugende Performance Challenges formuliert, um ihre Nachrichtenunternehmen für die heutige digitale Welt fit zu machen, in der die Zielgruppen („AudienceS“) an erster Stelle stehen. Lokale Nachrichtenorganisationen kämpfen – wie alle Unternehmen und Branchen heutzutage – um die knappe Zeit und Aufmerksamkeit von Menschen, die enorm viel Zeit vor Bildschirmen verbringen. Ja, es gibt nach wie vor eine wichtige Zielgruppe: (meist ältere) Menschen, die Printmedien bevorzugen. Sie müssen lokale Nachrichtenunternehmen ebenso bedienen wie andere Zielgruppen – nicht jedoch zu Lasten der AudienceS, die digitale Angebote gegenüber Print bevorzugen.
Warum die Nachrichtenredaktionen eine so zentrale Rolle spielen
Anders als im 20. Jahrhundert haben die Leserinnen und Leser heute mehr denn je die Wahl, wie sie ihre Zeit verbringen und wo sie sich die Nachrichten und Informationen holen, die sie für ihr tägliches Leben benötigen. Dieser Wandel hat tiefgreifende Konsequenzen für die traditionellen Nachrichtenunternehmen. Im 20. Jahrhundert beruhten die Einnahmen des Printgeschäfts auf der hervorragenden Arbeit von Marketing, Anzeigenverkauf und Auflage. Das ist heute anders. Nachrichtenunternehmen, die an diesem Konzept festhalten, werden sterben. Ja, wirklich. Sie werden sterben.
Alle traditionellen Nachrichtenunternehmen, denen es nicht gelingt, ihren eigenen Untergang zu verhindern, bedeuten auch für andere einen Verlust, denn mit ihrem Verschwinden wird ein zentrales Fundament der Demokratie geschwächt und löst sich zunehmend auf. Um dieses Schicksal zu vermeiden – für unsere Demokratien, für unsere Leserinnen und Leser und für unsere Nachrichtenunternehmen – müssen wir zu einer wichtigen und neuen Erkenntnis gelangen: Die Nachrichtenredaktion selbst ist heute das Geschäft. Nicht die Auflage. Nicht das Marketing. Nicht der Anzeigenverkauf. Die Nachrichtenredaktion.
Natürlich sind Marketing, Anzeigenverkauf und Auflage neben Technologie, Produktmanagement, wichtigen Partnern und anderen Faktoren von zentraler Bedeutung, um die Demokratie, den Leserzuwachs und die Zielgruppenansprache sowie die journalistische und finanzielle Nachhaltigkeit von Nachrichtenunternehmen in eine erfolgreiche Zukunft zu führen.
Aber seien Sie sich darüber im Klaren: Solange die Redaktion nicht diese hehre Verantwortung annimmt und sich als „das Geschäft selbst“ versteht, werden die demografischen Realitäten einer alternden Leserschaft, die Print bevorzugt, zunehmend an Wirkung verlieren.
Status quo auf dem Prüfstand
Um diesen Wandel zu vollziehen, braucht es den Mut zur Veränderung. Dazu muss die Redaktion ihre Kernaufgabe, nämlich das Auswählen, Berichten, Redigieren und Veröffentlichen von Geschichten, auf einen früheren Zeitpunkt am Tag und über den ganzen Tag hinweg verlagern – und darf nicht auf den „Redaktionsschluss“ der Printausgabe warten, um Geschichten digital zu versenden. Bei Le Quotidien Jurassien, dem Zeitungsverlag Waiblingen und der Saarbrücker Zeitung wurden diese Veränderungen umgesetzt, ebenso wie bei Baylis Media, die den Mut hatten, von einem wöchentlichen Redaktionsschluss gleich auf 21 Abgabefristen umzustellen, d. h. drei pro Tag – morgens, mittags und abends –, um den Veröffentlichungsrhythmus an den Lebensrhythmus ihrer AudienceS anzupassen.
Diese entscheidende Veränderung verlangt auch, die vielen verschiedenen (wenngleich sich in vielen Fällen überschneidenden) Zielgruppen, die bedient werden sollen, zu differenzieren und auszuwählen. Vorbei sind die Zeiten, in denen allgemeine Nachrichten für die „allgemeine Öffentlichkeit“ bereitgestellt wurden. Das führt nur zu undifferenzierten, standardisierten Inhalten, die aus unzähligen Quellen stammen.
Stattdessen müssen Nachrichtenredaktionen u. a. zusammen mit den Marketing- und Technik-Teams Kriterien für die Auswahl der AudienceS festlegen. Während jedes Nachrichtenunternehmen je nach seinen individuellen Marktvoraussetzungen bestimmte Kriterien anwendet, können zunächst alle Nachrichtenunternehmen mit diesen Kriterien beginnen: Wie groß ist diese Zielgruppe? Welche sind ihre Bedürfnisse, Interessen und Probleme, für die nach einer Lösung gesucht wird? Werden wir sie mit Begeisterung bedienen? Und verfügen wir über die notwendigen Kompetenzen, um sie zu bedienen, bzw. können sie schnell entwickeln?
Die schwierige Auswahl der AudienceS
Les Echos zum Beispiel hat seine AudienceS nach den folgenden Gesichtspunkten ausgewählt: Größe und Umsatzpotenzial der Zielgruppe, redaktionelle Kompetenz und der Wunsch, sie zu bedienen, Wettbewerbsdifferenzierung, das Potenzial für den Wert der Marke, Vielfalt und Inklusion sowie die Möglichkeit, schnell Ergebnisse zu erzielen, auf denen man aufbauen kann. Die Neue Pressegesellschaft hingegen setzte auf die Attraktivität der Zielgruppe, die Begeisterung, sie zu bedienen, und auf tatsächlich einsatzbereite Leute in der Nachrichtenredaktion.
Die Nachrichtenunternehmen der blauen und der orangefarbenen Kohorte von TSE wie der Nordkurier, Le Point, La Voix du Nord und die Nordwest-Zeitung haben anhand von Kriterien eine breite Palette spezifischer Zielgruppen ausgewählt. Wer diesen Bericht liest, sollte sie vor dem Hintergrund des überholten Ansatzes, „eine breite Öffentlichkeit zu bedienen“, betrachten: lokale Sportfans, weibliche Führungskräfte zwischen 30 und 50, Lehrer, Medienmanager, lokale Unternehmer, Familien, Feinschmecker, junge Eltern, aktive Senioren, Menschen mit einer Sehnsucht nach ihrer ländlichen, schönen Heimat und Menschen auf der Suche nach Wohnraum.
Grupo Serra und auch andere Teams stellen fest, dass die Journalisten über die nötigen Kompetenzen verfügen müssen, um ihre AudienceS an erste Stelle zu setzen. Ob mit für SEO optimierten Schlagzeilen, dem Wechsel von einer institutionellen Orientierung (was macht der Stadtrat) zu einer Leserorientierung (warum interessiert es die Leserinnen und Leser, was der Stadtrat macht), der Kombination verschiedener Medien wie Audio, Text, Grafik, Video und mehr oder, wie Baylis es getan hat, der Veröffentlichung zu Zeiten und an Orten, an denen die AudienceS zu erreichen sind (verschiedene Plattformen wie FB, Instagram und mehr) – für Journalisten dreht sich immer alles um die eine wesentliche Frage: Welche Aufgabe(n) erfüllen wir für diese Zielgruppe?
Die Bedürfnisse der Zielgruppen erfüllen und treue Markenfans gewinnen
Je nach Zielgruppe – z. B. die Feinschmecker, die 24 heures und der GA Bonn ausgewählt haben, die jungen Eltern, die von L'Avenir ausgewählt wurden, oder die Lehrer für den Kölner Stadt-Anzeiger – gibt es fünf mögliche Aufgaben, die zu erfüllen sind:
1. Helfen Sie mir/uns (d. h. der Zielgruppe aus deren Perspektive und nicht aus der des Journalisten), an dem Ort, an dem ich/wir leben, gut informiert zu sein.
2. Helfen Sie mir/uns, darauf zu vertrauen, dass Sie – mein/unser Nachrichtenunternehmen – an dem Ort, an dem ich/wir leben, die Entscheider zur Verantwortung ziehen (einschließlich und mehr als je zuvor die Entscheider der Privatwirtschaft).
3. Helfen Sie mir/uns, für Notwendigkeiten meines/unseres Lebens an dem Ort, an dem ich/wir leben, Lösungen zu finden (Notwendigkeiten wie Wohnen, Transport, Gesundheit (COVID!!), Jobs usw.).
4. Helfen Sie mir/uns, meine/unsere Lebensqualität an dem Ort, an dem ich/wir leben, zu verbessern (Essen, Trinken, Sport, Outdoor-Aktivitäten/Erkundungen und so vieles mehr).
5. Helfen Sie mir/uns, an dem Ort, an dem ich/wir leben, für ein besseres Miteinander zu sorgen und ihn so zu einem besseren Ort zu machen.
Sobald die AudienceS ausgewählt sind, gibt es Tools wie Design Thinking, das Schwäbisch Media und der Nordkurier genutzt haben, um die Leserinnen und Leser in den Mittelpunkt ihrer Arbeit zu stellen. Im nächsten Schritt können (und müssen) Journalisten und Redakteure, wie es jetzt bei Diario de Navarra und dem Kölner Stadt Anzeiger geschieht, bei ihrem Storytelling die AudienceS-First-Strategie verfolgen und Checklisten und Formatvorlagen verwenden, die die Redaktion immer wieder daran erinnern, für jeden Inhalt zu klären, (1) für welche Zielgruppe er bestimmt ist und welche Aufgaben wir für sie erfüllen; (2) wie wir die verschiedenen Medien (z. B. Foto, Video, Audio, Text, Grafik) für diese spezielle Geschichte und Zielgruppe am besten einsetzen können; und (3) ob wir festgelegt haben, welche Plattformen und welche Tageszeiten am besten geeignet sind, um die Geschichte zu verbreiten.
Nachdem sie Klarheit darüber erlangt haben, wann, wo und wie sie ausgewählte Zielgruppen bedienen wollen, gehen die Teams von TS Europe über die Sprache und Gewohnheiten von Print hinaus. So hat beispielsweise Vocento sein Konzept für Vivir verändert, indem es die Print-Rubrik zu „Themen von allgemeinem Interesse“ aufgab und Vivir als „Treffpunkt zur Verbesserung des täglichen Lebens unserer Leserinnen und Leser“ neu gestaltete. Um diese Vision eines täglichen „Treffpunkts“ mit Leben zu füllen, hat sich das Vivir-Team von Vocento von einer printorientierten Organisation hin zu einer Digital-First-Produktion entwickelt. Unter Verwendung von Daten werden tägliche Themen-/Story-Briefings erstellt, die als Inspiration für die Auswahl der Geschichten dienen, die es braucht, um die Zielgruppen miteinander zu verbinden.
Dashboards und Funnels erstellen
Mit diesen Maßnahmen bringen sich die TSE-Teams in eine Position, in der sie die Vorteile des Funnels nutzen können, der für die Konvertierung von zufälligen Besuchern in treue – und zahlende – Stammleser erforderlich ist. Einige von ihnen, wie der Irish Examiner, die Tiroler Tageszeitung und mediotejo.net, führen digitale Abonnements und Mitgliedschaftsangebote ein. Mediotejo hat mit lokalen Unternehmen Vorteile wie Rabatte ausgehandelt, um ihr Angebot für Mitglieder zu verbessern. Alle jedoch müssen einen Mehrwert für verschiedene Zielgruppen entwickeln und anbieten, damit diese Leser/Nutzer den Funnel nach unten weitergehen, ein Abonnement abschließen und – dank der Einbindung neuer Abonnenten und der Tatsache, dass sie weiterhin einen echten Mehrwert erfahren – als Abonnenten bleiben. Der Prozess lässt sich also wie folgt beschreiben: Erst sollen sie kommen, dann sollen sie bleiben, dann sollen sie zahlen und schließlich sollen sie bleiben und zahlen. SMK Petit Press zum Beispiel hat seine Newsletter-Strategie und die Leseransprache mit der Zielsetzung erneuert, dass die Leserinnen und Leser bleiben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie bezahlen, steigt. Unterdessen hat die Tiroler Tageszeitung ihre Redaktion aufgefordert, für eine stärkere Lesereinbindung Quizze zu erstellen, und nutzt einen Newsletter über Lebensmittel für den gleichen Zweck.
Um die Nutzer erfolgreich durch diesen Prozess zu führen, muss die Redaktion über Daten verfügen – und diese nutzen. Wie schon in Runde 1 von TS Europe erkennen die blaue und die orangefarbene Kohorte in Runde 2, dass die Daten in der Redaktion einfach zu verstehen und zu nutzen sein müssen. Ja, für qualifizierte Analysten benötigen Nachrichtenunternehmen auch komplexere Daten. Aber komplizierte Daten – egal wie reich sie an Erkenntnissen sind – bleiben in Nachrichtenredaktionen ungenutzt.
Die News Consumer Insights unseres TSE-Partners Google News Initiative können jede Nachrichtenredaktion dabei unterstützen, den Einstieg in die Nutzung von Daten sofort zu meistern. Anschließend kann jedes Nachrichtenunternehmen die Daten an die eigenen Marktgegebenheiten und gewählten AudienceS anpassen. Google hat außerdem ein „Reader Revenue Playbook“ erstellt, das viele praktische Erkenntnisse und Tipps enthält. Um diese Vorteile zu nutzen, müssen jedoch neue Kompetenzen, Workflows, Funnels und Daten implementiert werden – es bedarf also tatsächlicher Änderungen in Verhalten und Kompetenzen. Die TSE-Teams profitieren somit von beidem: dem Challenge-orientierten Konzept von Table Stakes in Kombination mit diesen leistungsstarken Hilfsmitteln der GNI.
Die News Consumer Insights von Google unterstreichen übrigens die guten Nachrichten aus dem Bereich Zielgruppen und digitaler Wandel: Es liegen empirische Beweise dafür vor, dass der Wert eines digitalen Abonnenten den Wert von Werbung durch zufällige Besucher bei weitem überwiegt. Lokale Nachrichten lassen sich nicht skalieren. Das bedeutet, dass sich lokale Nachrichten – selbst in einem multilokalen Unternehmen wie der NOZ –- nicht durch ein werbebasiertes Erlösmodell selbst tragen können.
Neben dem Mut zu diesen Veränderungen müssen traditionelle Nachrichtenunternehmen auch die nötige Zeit und Ressourcen aufbringen. Hierzu ist es am besten, Aktivitäten zu identifizieren und einzustellen, die einfach nicht den für die journalistische und finanzielle Nachhaltigkeit erforderlichen Wert haben. Gewohnheiten sind nun einmal langlebiger Natur. Und die Gewohnheiten printorientierter Strategien enthalten viele ressourcenverschwendende Aktivitäten, die eingestellt und durch leserorientierte, digitale Bemühungen ersetzt werden müssen, um erfolgreich zu sein. Der Zeitungsverlag Waiblingen hat schnell eine Reihe von printorientierten Arbeitsschritten erkannt – und eingestellt –, um die dadurch freigesetzten Ressourcen für eine bessere Ansprache der Zielgruppen zu nutzen.
Leistung ist das primäre Ziel der Veränderung, nicht die Veränderung an sich. Die TSE-Teams setzen sich individuelle, messbare, ehrgeizige, aber erreichbare, relevante und zeitgebundene Ziele, die auf die folgende Frage eine Antwort liefern: „Wie würde Erfolg für die vor uns liegende Challenge aussehen?“ Anschließend identifizieren sie kurzfristige Ziele („Early Wins“), um Energie und Dynamik aufzubauen. Denn alle im gesamten Nachrichtenunternehmen, von der Vorstandsetage bis hin zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der Basis, gewinnen an Zuversicht und Begeisterung, wenn sie bessere Ergebnisse sehen, z. B. in Bezug auf die Anzahl der Newsletter-Anmeldungen, eine längere Verweildauer, digitale Abonnements, neue Einnahmen, eine geringere Abwanderung sowie neue Kompetenzen, Workflows und verwertbare Daten.
Diese besonderen Erfolge inspirieren alle Teilnehmer von Table Stakes Europe. Und, was besonders wichtig ist, die Teams tauschen sich aus und ermutigen ihre Kollegen, das, was sie tun und lernen, ebenfalls zu tun. Mit der grünen Kohorte aus Runde 1 von TSE und den neu hinzugekommenen blauen und orangenen Kohorten ist eine richtige Community entstanden – eine Community aus Menschen und Nachrichtenunternehmen, die genau jetzt gemeinsam an einer erfolgreichen Zukunft für die AudienceS und den Journalismus arbeiten.